Die Schönheit der Verfassung auf der Probe – Reportage aus dem Verfassungsgerichtshof

Am Dienstag kam es zu einer öffentlichen Verhandlung am Verfassungsgerichtshof. Die Corona-Restriktionen der Regierung, genauer die 2G-Regel und der „Lockdown für Ungeimpfte“, lagen am Tablett der Höchstrichter. Ein Bürger schildert exklusiv für TKP seine Eindrücke und fasst die Verhandlung zusammen.

„Verfassungsgerichtshof lädt zur mündlichen Verhandlung am 15.03.2022“: Die Meldung hatte mich neugierig gemacht und als kürzlich Genesener schickte ich eine Anmeldung mit der überraschenden Rückmeldung einer Platzzusage ein paar Tage später. Lockdown für Ungeimpfte, 2G Regel und mehr wird verhandelt.

Der sakrale Hof

Verfassungsgerichtshof. In der Wahrnehmung ein ja fast sakrales Institut. Schützt das rechtstaatliche Prinzip. Hat die ganze Verfassung im Blick und achtet auf die Grundrechte der Bürger. Integre Damen und Herren. Erfahren und erhaben. Unabhängig in Ihren Entscheidungen. Vertrauenspunkte 100 von 100.

Nun ja. Früher gab es auch schon kritische Stimmen, die die nicht vorhandenen Unvereinbarkeitsregeln als „höchst bedenklich“ und „längst überholt“ beurteilten. Verfassungsrichter (VR) Kahr und VR Herbst hatten da ja nicht so feine Verstrickungen. Wie auch, entsendet ja die Politik via Bundesrat die VR. Der Sprachgebrauch lautet dann meist: „auf einem Partei-Ticket“. Sei es, wie es sei. Unter den 14 Verfassungsrichter haben sechs ein ÖVP, darunter der Präsident Christoph Grabenwarter, fünf ein SPÖ, zwei ein FPÖ und die Vizepräsidentin Madner sitzt auf einem grünen „Ticket“. Verhandelt wird an der Adresse Freyung Acht, in der Wiener Innenstadt. Standesgemäß.

Schon bei der Ankunft kann ich die gewisse Aufgeregtheit der Mitarbeiter spüren. Mündliche öffentliche Verhandlungen scheinen etwas Besonderes zu sein. Strenger Hinweis auf 3G, Abstandsregel, Maskenpflicht und Co. Am zugewiesenen Platz die Anträge sauber ausgedruckt. Man fühlt sich willkommen. Ein Bekannter nimmt ohne Maske genau neben mir im Hauptsaal Platz. Sehr erfreulich. Maskenbefreiung wirkt – vorerst.

Alle erheben sich und die 14 Richter betreten den Saal. In ihren Roben. Schwarz Violett. Zeit der Buße flackert so spontan in mir auf. Also das mit dem sakralen Institut stimmt dann ja wohl wirklich. Unter dem Schriftzug „Ihr Recht geht vom Volke aus“ wird synchron platzgenommen. Die Szenerie erinnert schon an einen Kult. Aber wem kultet man da eigentlich? Dem Volke? Oder der Verfassung? Oder dem Richter?

Regierung militärisch koordiniert

Egal. Die Richter nehmen plexitrennglasmäßig Platz und los gehts. Gleich wieder Hinweis auf die Maskenpflicht und das korrekte Tragen der Maske. Wirkt ein wenig pedantisch. Evident ist aber der vulnerable Altersdurchschnitt der VR. Soll mir recht sein. Präsident Grabenwarter eröffnet. Ich stelle fest, dass die Regierungsseite linker Hand mit mindestens 20 Personen antritt. Jede zu behandelnde Frage wird exakt der zuständigen Abteilungsdelegierten zugewiesen. Militärisch koordiniert von Sektionschefin DDr. Meinhild Hausreither. Zu Ihrer rechten Gecko Chefin Reich. Bestbesetzung. Definitiv anders als bei leeren Sachverhaltsdarstellungen in der jüngeren Vergangenheit. So eine mündliche Verhandlung wirkt.

Der Regierungsgesandten gegenüber sieben Juristen der zu behandelnden vier Anträge. Der Antrag V294/2021 wird von Vizepräsidentin Madner vollständig vorgelesen. Das Wort ergreift RA Dr. Stefan Gulner. Man merkt umgehend seinen Respekt vor der Einrichtung. Fast schüchtern und undeutlich kommen Zahlen, Prozente, Auslastungen und Co. Er wirkt fast entschuldigend, dass er hier stört. Nicht gut, denke ich mir. Gar nicht gut. Durch den Mechanismus des Systems wird nun die Gruppe der Ungeimpften von einem Anwalt vertreten, dem eine Phalanx von eloquenten, kommunikationsgeschulten Regierungsgesandten gegenübersteht. Im Laufe seiner Ausführungen gewinnt er aber an Souveränität, was auch die Mimik der Richterschaft wohlwollend zu erkennen gibt und auch in mir eine gewisse Gelassenheit entstehen lässt.

Kein Ort für Maskenfreie

RA Dr. Thomas Marschall übernimmt mit seinem Antrag. Er klärt gleich zu Beginn auf, dass er unabhängig und ohne Interessenskonflikt hier ist. Er steht hier, weil er sich über den Sommer eingearbeitet hat und immer mehr Widersprüche in den Handlungen der Regierung erkannt hat. Chapeau. Ich sehe die Fahnen des ungeimpften Volkes. Marschall voran. Seine Ausführungen top recherchiert, eloquent und auf den Punkt gebracht.

Unruhe neben mir. Der einzige „Freiatmer“, mein Bekannter, muss den Hauptsaal verlassen. „Damit sich die Richter nicht anstecken“, flüstert die VfGH Anstandsdame. Ein inzidenzloses „Oida“ rutscht mir über die Lippen, verbleibt aber zum Glück bei der 5 Meter Abstand Richterschaft ungehört. Leider nicht bei der Mitarbeiterin, die mir dann höflich, aber bestimmt das Trinken im Hauptsaal verbietet.

Wiederum übernimmt die Regierungsentourage die Beantwortung der Fragen. Im Mittelpunkt stehen Dr. Katharina Reich, Dr. Klaudia Steinböck (Abteilung Recht), Dr. Sigrid Kiermayer (Abteilung Seuchenbekämpfung), Dr. Herwig Ostermann (Gesundheit Österreich) und Mag. Dr. Maria Paulke-Korinek. Beim Zuhören und der abstrakten theoretischen Ausdruckweise der Experten stelle ich mir die Frage, ob diese Experten in der direkten Patientenbetreuung stehen oder jemals standen.

Die Intensivmedizinerin Prof. Eva Schaden spricht von ihrem Alltag und drückt die Dankbarkeit an die Regierung aus. Was ihr glaube ich nicht auffällt, dass Sie im Grunde ständig über den Personalmangel spricht. Ähnlich wie der eloquente Herwig Ostermann, der bei ca. 80% Bettenauslastung auf der Intensivstation in den unpandemischen Jahren 2018-2019, und bei ca. 75% Auslastung in den Epidemiejahren 2020-2021 auch von theoretisch verfügbaren Betten, aber nicht faktisch „bespielbaren“ Betten ausführt.

Nicht ohne Emotionen

RA Holzinger, der seine Schwester vertritt, spricht von der enormen psychischen Belastung seiner Schwester als Mutter und den Kindern, die nicht einmal öffentliche Spielplätze besuchen dürfen. Große Leistung für seine Schwester in den Ring zu steigen. Die Thematisierung der psychischen Situation und der Folgen kam aber in der mündlichen Ausführung nicht vehement genug zum Ausdruck.

RA Mag. Astrid Nagel und MMag. Olivia Lerch als Nächste sprechen die Antikörperproblematik an.  MMag. Lerch, selbst Anwältin, erzählt emotional von Ihren Einschränkungen und Ihren Hindernissen, die Sie bei der Ausübung Ihres Alltages erfahren hat. Erfrischend aus dem Herzen gesprochen mit der entsprechenden Wirkung. Ein willkommenes Gegenstück zum Maschinen-Staccato der Regierungsseite. Auch der Auftritt von RA Nagel war sehr selbstbewusst und hat Eindruck gemacht.

Die Anträge sind nun vorgetragen und nach einer kurzen Pause geht es mit den Fragen der Richterschaft weiter. Für mich werden überraschend, ja irritierend wenige Fragen gestellt. Lediglich VR Kahr, Hauer und Schnizer äußerten sich, wobei sich gerade Kahr und Schnizer auf RA Marschall ein wenig „einschossen“.

Coronistische Widersprüche

Ich fasse hier mal alle kritischen Aussagen und Widersprüche der Regierungsgesandten in meiner persönlichen Wahrnehmung zusammen.

  1. Schlüsselfrage. VR Hauer: Wie ist die Wahrscheinlichkeit eines ungeimpften und Negativ-Getesteten versus eines ungetesteten Geimpften, Genesenen das Virus weiterzutragen? Kiermayer (sinngemäß): Genaue zahlenmäßige Bewertung des Risikos ist nicht möglich. Tendenziell tragen Geimpfte weniger zum Systemrisiko bei als Getestete. (pers. Anm: somit reine Behauptung)
  2. Kiermayer (sinngemäß). Ungeimpfte stecken sich mehr an. Auf den Hinweis, dass es ja logisch sein muss, da Ungeimpfte ja für Arbeitsplatz, Schule und Co. sehr häufig testen müssen. Wir wissen aus UMFRAGEN, dass auch Geimpfte viel testen gehen. Ansonsten gibt es keine Evidenz. (pers. Anm: Aus Umfragen!)
  3. Regierungsvertreter: Wir standen vor der Entscheidung Lockdown für Alle oder Lockdown nur für Ungeimpfte. Wir haben uns für Zweiteres entschieden. (pers. Anm: Vielleicht hätte man es auch so machen können: „7W Lockdown“, in der 1. Woche, alle die am Sonntag geboren sind, 2. Woche, die am Montag geboren sind, usw.)
  4. Antikörper: Dr. Kiermayer. (sinngemäß) Es ist nicht umsetzbar den Antikörperstatus permanent zu testen. (pers. Anm: 166,7 Millionen Antigen und PCR Tests sind aber schon möglich? Kosten 1600 Millionen 2021/ 1300 Millionen für 2022. Unglaublich. Da zudem ein Titer ja nicht alle 72h „verfällt“)
  5. Kiermayer: Antikörpertests zählen nicht, weil es für diese Tests keine einheitlichen Standards mit Schwellenwerten usw. gibt. (pers. Anm: Für PCR Test Hersteller werden auch nicht unabhängig überprüft. https://www.oeglmkc.at/corona.html#ABS154 )
  6. 5 Stufenplan. Auf den Hinweis, dass ja der Lockdown an einen 5 Stufenplan gekoppelt wurde und das Auslastungskriterium nicht eintrat und trotzdem ein Lockdown durchgesetzt wurde. Steinböck (sinngemäß): Der 5-Stufen-Plan der Bundesregierung war eine „politische Absichtserklärung“ ohne Rechtswirkungen. Er diente nur dazu die Bevölkerung zu informieren.
  7. Quantifizierung, positive Effekte des Lockdowns für Ungeimpfte. Regierung. Keine Evidenzen!
  8. Kiermayer (sinngemäß) Alle Arten von Studien fließen in die Beurteilung ein. Wir stehen wöchentlich international mit RKI, WHO, CDC und vielen anderen im Kontakt.
  9. Manfred Ditto (sinngemäß): Wir konnten Omikron nicht einschätzen. Unklare Datenlage. Wenig Informationen.
  10. Das zugelassene Medikament Ronapreve kann das „Systemrisiko“ für Ungeimpfte erheblich reduzieren. Warum wird darauf nicht ebenfalls gesetzt und nur auf die Impfung. Reich (sinngemäß) Eine Versorgung mit dem Medikament ist nicht möglich. Die Impfung hat zudem präventiven Charakter. (pers. Anm: Kosten Impfstoffe 2021 470 Millionen, 2022: 750 Millionen)

Die rund vierstündige Verhandlung ist zu Ende. Erleichterung macht sich breit. Scheinbar waren in der per Los bestimmten Zuhörerschaft einige glückliche Mitarbeiter aus dem Gesundheitsministerium, die ihre Protagonisten herzlich umarmten. Befremdend zu beobachten. So nach dem Motto „Gut gemacht“. Psychische Belastungen. Grundrechte. Ausgrenzung. Mitgefühl. Leid. Die Tragweite und die Konsequenz des „Gut gemacht“ hat hier wohl niemand im Bewusstsein.

Schönheit und Verfassung

Die Hoffnung bleibt, dass die Verfassungsrichter anders urteilen und sich hoffentlich weniger der Regierung verpflichtend fühlen wie VR Schnizer, der sich beeindruckt von der Ausführung der Regierungsseite zeigte. Aber wie erfahrene Anwälte sagen, ist es immer eine gewisse Wundertüte, wie Richter entscheiden.

Die Schönheit der Verfassung, wie der Bundespräsident des öfteren betonte, kann in meiner laienhaften Einschätzung nur ein „verfassungswidrig“ als Urteil zulassen. Die Entscheidung der VR wird in jedem Falle elementar wichtig sein. Auch im Hinblick auf zukünftige Themen, wie RA Marschall betonte.

Wir werden sehen, für welchen Teil des Volkes sich die Verfassungsrichter entscheiden.

Bild: TKP

Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 16. 3. 2022 auf tkp.at

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