Neutralität am Prüfstand

Historischer Rückblick

Der Krieg in der Ukraine hat die Diskussion über Sinn und Nutzen unserer Neutralität neu entfacht. Es gab vereinzelt Wortmeldungen, die sogar einen Beitritt zur NATO in den Raum stellten. In Schweden und Finnland steigt in der Bevölkerung die Zustimmung für einen Beitritt zur NATO. Hingegen sind in Österreich laut Umfragen 88 Prozent der Bevölkerung für ihre Beibehaltung. Was macht die Neutralität für uns so wertvoll?

Historisch gesehen hat unsere Neutralität ihren Ursprung im Moskauer Memorandum vom 15. April 1955. Darin verpflichtete sich Österreich nach Erlangung der Unabhängigkeit sich aus freien Stücken für immerwährend neutral nach dem Vorbild der Schweiz zu erklären. Die damalige Delegation Raab, Schärf, Figl und Kreisky lehnte das Verlangen der Sowjetunion ab, die Neutralität im Staatsvertrag zu verankern. Erst nach dem Abzug des letzten Soldaten der Besatzungsmächte hat Österreich am 26. Oktober 1955 das Neutralitätsgesetzt aus freien Stücken beschlossen.

Diese Abfolge der Ereignisse ist einer der Gründe warum die Bevölkerung die Neutralität mehrheitlich mitgetragen hat. Dazu kommt die Erklärung von Julius Raab, dass die Neutralität niemals weltanschaulicher Natur sei. Diese kluge Vorgangsweise der damaligen Politiker erlaubt uns heute unseren sicherheitspolitischen Kurs selbst zu bestimmen.

Österreich nutzte diesen Spielraum und entschied sich für eine moderne Form der Neutralität, die sich nicht am Vorbild der Schweiz orientierte. Wir traten bereits am 14. Dezember 1955 den Vereinten Nationen bei. Seit dem ist die Charta der Vereinten Nationen ein verbindlicher Rahmen für unsere aktive Friedenspolitik und den Einsatz unserer Soldaten in friedenserhaltenden Missionen. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 ergeben sich weitere Verpflichtungen, die bei der Gestaltung unserer Neutralitätspolitik zu beachten sind.

Die Neutralität Österreichs bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen dem Neutralitätsgesetz, den Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Dieses Spannungsfeld bringt einerseits Verpflichtungen mit sich und eröffnet aber andererseits besondere Möglichkeiten für eine aktive Friedenspolitik. Welche Folgerungen lassen sich für unsere Neutralität daraus ableiten.

Verpflichtungen des Neutralen

Das Neutralitätsgesetz legt in 2 Paragraphen unsere Verpflichtungen fest.

  1. Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.
  2. Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Wenn wir uns den Text des Gesetzes vor Augen führen fällt sofort auf, dass wir die Verteidigung der Neutralität immer sträflich vernachlässigt haben. Die Konzeption der Umfassenden Landesverteidigung und der Raumverteidigung waren sicherheitspolitisch und militärstrategisch richtige Ansätze, die an der unzureichend Finanzierung litten und 1989 mit dem Fall der Mauer dem geänderten Bedrohungsbild zu Unrecht zum Opfer fielen. Der Krieg in der Ukraine führt uns vor Augen wie erfolgreich Raumverteidigung sein kann und wie nötig die Vorgaben der Umfassenden Landesverteidigung in Bezug auf Bevorratung, Ernährungssicherheit, Energieversorgung und integrierten Sanitätsdienst gewesen wären.

Die Bereitschaft in unsere Landesverteidigung zu investieren ist zweifellos gestiegen. Dennoch löst die Forderung der Verteidigungsministerin das Budget für die Verteidigung schrittweise auf 1,5% des BIP anzuheben ungläubiges Staunen aus. Obwohl in der Aufbauphase der Raumverteidigung im Durchschnitt 1,2% des BIP für die Verteidigung zur Verfügung standen, war schon damals der Investitionsanteil am Budget zu gering. Schon damals wären 1,5% des BIP angemessen gewesen. Der Bericht des Verteidigungsministerium Bundesheer 2030 verdeutlicht in anschaulicher Form was nötig ist.

Es ist höchste Zeit die Verpflichtungen der Neutralität ernst zu nehmen. Der Neutrale muss dafür Sorge tragen, dass im Kriegsfall sein Territorium von keiner Kriegspartei genutzt werden kann. Je stärker die abhaltende Wirkung der Verteidigung desto höher ist der Beitrag zur gemeinsamen europäischen Sicherheit. Eine glaubwürdige Landesverteidigung zur Erde und in der Luft muss sich an den Standards des sicherheitspolitischen Umfeldes messen.

Mit einem finanziellen Aufwand von 1,5% des BIP wird niemand behaupten können Österreich hätte seine Neutralität nicht mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verteidigt. Die Weisheit der Römer „Si vis pacem para bellum“ heißt für den Neutralen „Wenn du Frieden willst bereite deine Verteidigung vor“. Der immer wieder erhobene Vorwurf des sicherheitspolitischen Trittbrettfahrers hätte sich dann erübrigt. Eine glaubhafte umfassende Landesverteidigung wird unsere Stellung in der Internationalen Gemeinschaft stärken und uns eine selbstbewusste Neutralitätspolitik ermöglichen.

Beitritt zu den Vereinten Nationen

Der Beitritt zu den Vereinten Nationen war für Österreich ein Schritt zur aktiven Mitwirkung an der internationalen Friedenspolitik. Die Vereinten Nationen kennen keine Neutralität im klassischen Sinne, da die Charta Kriege zur Durchsetzung politischer Ziele verbietet. Die Anwendung militärischer Gewalt ist nur auf Grund eines Mandates des Sicherheitsrates zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens und zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriffe erlaubt. Das Ideal der Vereinten Nationen, nämlich die Geissel des Krieges zu bannen hat sich nicht erfüllt.

Bei der Stabilisierung von bewaffneten Konflikten mit Hilfe der friedenserhaltenden Missionen waren die Vereinten Nationen jedoch unverzichtbar. Neutrale Staaten sind naturgemäß bevorzugte Truppensteller und spielen deshalb in der Friedenssicherung eine wichtige Rolle. Österreich hat sich seit 1960 mit über 120.000 Soldaten und Soldatinnen an den friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen beteiligt. 1988 wurde den Friedenstruppen der Friedensnobelpreis verliehen. Diese Anerkennung bezeugt die internationale Wertschätzung für die militärischen Friedenseinsätze. Österreich kann mit Stolz einen Gutteil dieser Wertschätzung in Anspruch nehmen. Es gibt keinen Grund diesen erfolgreichen Weg nicht fortzusetzen.

Beitritt zur EU

Als Österreich 1995 der EU beigetreten ist hat es auf einen Vorbehalt mit Bezug auf seine Neutralität verzichtet. Nichts desto trotz ist die Vereinbarkeit neutraler Positionen mit den Absichten der EU einer ständigen Prüfung zu unterziehen. Der EU-Vertrag enthält im Artikel 42 (7) eine Beistandsklausel. Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedstaat schulden die anderen Mitgliedstaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Im Hinblick auf die konkrete Unterstützung besteht jedenfalls eine politische Verpflichtung. Es obliegt aber den Hilfe leistenden Mitgliedstaaten, Art und Umfang der Unterstützung konkret zu bestimmen. Außerdem lässt die Beistandspflicht den „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ unberührt (irische Klausel). Österreich kann somit nicht zur Teilnahme an militärischen Einsätzen verpflichtet werden.

Der Krieg in der Ukraine ist eine besondere Prüfung unserer Neutralität in Bezug auf das Spannungsfeld zwischen Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und dem Neutralitätsgesetz. Die Neutralität erschöpft sich nämlich nicht nur in der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen. Sie baut auch auf eine Politik, die die Fähigkeit und Bereitschaft sich neutral zu verhalten vorhersehbar macht. Im Rahmen der GASP können sich für die österreichische Neutralitätspolitik schwierige Fragen ergeben, die jedoch nur von Fall zu Fall entschieden werden können. So hat der neutrale Staat sich jeder Unterstützung der Kriegführung zu enthalten und darf kein Kriegsmaterial abgeben. Im nichtmilitärischen Bereich kann er nach eigenem Ermessen vorgehen solange die Gleichbehandlung der Kriegsparteien sicher gestellt ist.

Aus neutralitätspolitischer Sicht hat der Neutrale größtes Interesse seine Sonderstellung zu nutzen. Die humanitäre Hilfe, die Aufnahme von Vertriebenen, das Angebot guter Dienste und die Bereitschaft zu vermitteln dienen der Minderung des menschlichen Leides und der Entschärfung des Konfliktes. Aus diesem Grund beherbergen die Schweiz und Österreich viele internationale Organisationen die sich der humanitären Hilfe und der Vertrauensbildung widmen.

Die EU beabsichtigt auch in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) rascher voran zu schreiten. Der gerade beschlossene „Strategische Kompass“ sieht die Aufstellung einer Eingreiftruppe in der Stärke von 5.000 Soldaten vor. Österreich wird sich daran beteiligen. Diese Beteiligung ist, so wie die bisherige Beteiligung an den EU Battlegroups, neutralitätspolitisch unproblematisch. Falls die Eingreiftruppe ohne Mandat der Vereinten Nationen Eingesetz werden sollte, kann sich Österreich auf die irische Klausel berufen.

Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die EU die Charta der Vereinten Nationen achten wird und somit eine Teilnahme Österreichs mit der Neutralität vereinbar ist. Immerhin hat die EU, so wie die Friedenstruppen der Vereinten Nationen, für ihren Kampf für Frieden und Versöhnung 2012 den Friedensnobelpreis erhalten.

Ausblick

Die Neutralität ist insgesamt weder für die EU noch für Österreich ein Nachteil. Im Gegenteil, sie kann für die EU sogar zum Vorteil werden. Nüchtern betrachtet ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das heißt umgekehrt, dass der Krieg früher oder später in einem Waffenstillstand endet und wieder zur Politik zurück kehrt. Es beginnt der mühsame Weg der Vertrauensbildung und der Verhandlung einer Friedenslösung.

Die Vertrauensbildung ist eine wichtige begleitende Maßnahme, die sich an die Menschen der Konfliktparteien wendet. Dazu braucht man die guten Dienste von unparteiischen Vermittlern. Es gibt nur wenige Staaten, die im Ukraine Krieg das Vertrauen beider Staaten genießen werden und an der Versöhnung arbeiten können. Österreich kann seine Neutralität für diese Aufgabe nutzen.

Der Krieg in der Ukraine ist für ganz Europa eine unsagbare Tragik. Wir können die Zeit nicht zurück drehen. Wie es trotz der umfangreichen vertrauensbildenden Maßnahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) passieren konnte wird uns noch lange beschäftigen. Warum haben diese Mechanismen versagt und welche Schlüsse sind daraus zu ziehen. Jetzt ist nicht die Zeit dieser Frage nachzugehen. Jetzt müssen wir den Gegebenheiten ins Auge blicken und alles tun um diese Tragik zu beenden. Eine weitere Eskalation hilft niemanden.

Was kann die internationale Gemeinschaft tun um die Rückkehr zur Politik zu ermöglichen? Es ist eine schwierige Aufgabe die Waffen zum Schweigen zu bringen. Niemand kann sich des Erfolges sicher sein. Politisches Feingefühl für den richtigen Zeitpunkt und die Glaubwürdigkeit der Bemühungen sind gefragt. Österreich sollte als neutraler Staat trotzdem seine Dienste anbieten.

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